Selbstbestimmt leben trotz Multimorbidität und Demenz

Freiheit ermöglichen, Risiken klug steuern

Worum es geht

Mit höherem Alter treten mehrere Erkrankungen oft gemeinsam auf (Multimorbidität). Dazu kommen chronisch-degenerative Beeinträchtigungen wie Demenz. Der Alltag wird komplizierter: Fähigkeiten schwanken, Medikamente nehmen zu, Unsicherheiten entstehen. Ziel bleibt: so viel Selbstbestimmung und Freiheit wie möglich – mit so viel Unterstützung wie nötig, aber so wenig wie möglich. Aktuelle Übersichten betonen, dass beeinflussbare Faktoren (u. a. Hören, Sehen, Blutdruck, LDL-Cholesterin) eine große Rolle spielen – das hilft in der Prävention und im Alltag mit bestehender Demenz (Lancet Commission 2024).

Warum die Situation so anspruchsvoll ist

Mehrere körperliche, sensorische und psychische Faktoren wirken zusammen. Seh- und Hörverlust, Gangunsicherheit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stimmung und Gedächtnis beeinflussen einander – mit Folgen für Orientierung, Sturzrisiko und Teilhabe. Evidenz zeigt eine hohe Verbreitung von Multimorbidität und häufige Polypharmazie im Alter.

Autonomie und Sicherheit ausbalancieren

Mehr Schutz kann Freiheit einschränken; weniger Regeln kann Risiken erhöhen. In der Sozialarbeit und Pflege hat sich dafür der Begriff „positive risk-taking“ bzw. „risk enablement“ etabliert: Risiken mit der betroffenen Person identifizieren, Nutzen und mögliche Schäden abwägen, Vereinbarungen dokumentieren und regelmäßig überprüfen. Praxisleitfäden und Übersichten: SCIE, Social Care Wales, Scoping Review 2024.

Entscheidungen unterstützen

Auch bei Demenz sollten Entscheidungen so lange wie möglich unterstützt und nicht ersetzt werden. Internationaler Referenzrahmen ist die UN-Behindertenrechtskonvention (CRPD), Art. 12 mit Betonung unterstützter Entscheidungsfindung. Leitlinien empfehlen dazu ein personenzentriertes, alltagsnahes Vorgehen (z. B. S3-Leitlinie „Demenzen“, NICE NG97).

Leitplanken aus der Evidenz

  • Lancet-Kommission 2020/2024: Prävention, Behandlung und Versorgung; u. a. neue Gewichtung unbehandelter Sehbeeinträchtigung und hohen LDL als Risikofaktoren. Kurz zusammengefasst: Hören/Sehen versorgen, Blutdruck/LDL behandeln, aktiv bleiben (Lancet 2024).
  • WHO-ICOPE: Screening der „intrinsischen Kapazität“ (Mobilität, Ernährung, Sehen, Hören, Stimmung, Kognition), vertiefte Beurteilung, gemeinsamer Plan, Monitoring (WHO ICOPE Handbook · PDF).
  • S3-Leitlinie „Demenzen“ (Living Guideline, 2025): Personenzentrierte, alltagsnahe Versorgung über alle Phasen (DGN/DGPPN Übersicht · AWMF-PDF 2025).
  • BMJ Netzwerk-Metaanalyse 2024 (Crocker et al.): Community-basierte, komplexe Interventionen zur Erhaltung von Selbstständigkeit; mit der höchsten Nutzen-Wahrscheinlichkeit schnitten individualisierte Versorgungsplanung inkl. Medikationsoptimierung und regelmäßigen Follow-ups ab. (BMJ/PubMed).

An- und Zugehörige: Belastungen, Zielkonflikte und wirksame Unterstützung

An- und Zugehörige tragen eine doppelte Aufgabe: unterstützen und zugleich Selbstbestimmung wahren. Daraus entstehen typische Belastungsmuster und Zielkonflikte – und es gibt gut belegte Ansätze, sie zu entschärfen.

Mitwohnende Partner:innen – häufige Belastungen

  • Dauerbereitschaft und Schlafunterbrechungen
  • Rollenverschiebung hin zu Organisation/Pflege
  • Scham und sozialer Rückzug
  • Vernachlässigung eigener Gesundheit

Entfernt Wohnende – häufige Belastungen

  • Distanzdilemma zwischen Hilfe und Übersteuerung
  • Informationslücken und Koordinationsaufwand
  • Konflikte durch unterschiedliche Risikoeinschätzungen

Was nachweislich hilft (Praxisbausteine)

  • 2–4 gemeinsame Alltagsziele mit klaren Zuständigkeiten (z. B. sicher kochen; ruhiger Tagesbeginn; sichere Wege)
  • Sichtbarer Wochenplan (Termine, Aufgaben, Unterstützung) plus kurze Änderungsprotokolle
  • Frühwarnzeichen (Grün–Gelb–Rot) definieren und passende Reaktionen festlegen
  • Entlastungsinseln verlässlich einplanen (kurze Pausen, Vertretungen)
  • Kommunikationsordnung: Wer informiert wen, wie schnell, über welchen Kanal
  • Krisenkarte (Kontakte, Diagnosen, Medikamente, Notfallvereinbarungen)
  • Psychoedukation/Training (u. a. Deeskalation, Selbstfürsorge)
  • Digitale Ergänzungen (z. B. geteilte Pläne) – als Unterstützung, nicht als Ersatz von Absprachen

Wirksamkeit – kurz belegt

Meta-Analysen berichten kleine bis mittlere Effekte psychoedukativer und multikomponentiger Programme auf Belastung, Depressivität/Angst und Kompetenz (Walter & Pinquart 2020; Cheng et al. 2020). RCTs wie START (Angst/Depression ↓; langfristig wirksam, kostenwirksam: BMJ 2013 · Lancet Psychiatry 2014) und REACH II (Belastung ↓, Lebensqualität ↑: Ann Intern Med 2006) zeigen robuste Ergebnisse. Leitlinien (z. B. NICE NG97; S3 „Demenzen“) sowie WHO-iSupport empfehlen die strukturierte Einbindung und Unterstützung von An- und Zugehörigen.

Prinzipien, die sich bewähren

Personsein bewahren. Tom Kitwood rückt die Person in den Mittelpunkt – Beziehung, Biografie, Umgebung. (Einführung/Rezension: PMC). Validation nach Naomi Feil unterstützt eine jemanden bestätigende Kommunikation – besonders in späteren Stadien (Buchhinweis: Reinhardt-Verlag).

SOK-Modell (Selektion, Optimierung, Kompensation). Ziele auswählen (was ist wirklich wichtig), Ressourcen trainieren und ordnen, Defizite gezielt ausgleichen. Das Modell hilft, Überforderung zu vermeiden und Wirkungsschritte klar zu planen (vgl. Baltes & Baltes 1990).

Reablement statt reine Versorgung. Alltagsfähigkeiten werden gezielt (wieder) aufgebaut: kleine, erreichbare Schritte, klare Ziele, kurze Rückmeldeschleifen. Studien zeigen positive Effekte – je nach Setting unterschiedlich stark. Eine Netzwerk-Metaanalyse im BMJ (Crocker et al., 2024) stützt insbesondere individualisierte Versorgungsplanung mit Medikationsoptimierung und regelmäßigen Nachkontrollen als wahrscheinlich wirksam für den Erhalt von Selbstständigkeit (PubMed).

„So viel wie nötig, so wenig wie möglich“ – konkret im Alltag

Gesundheit stabilisieren. Sehschwächen korrigieren, Hörgeräte konsequent nutzen, Blutdruck und LDL behandeln, Schlaf und Aktivität rhythmisieren, Essen und Trinken sichern. Das dient Lebensqualität und kann kognitive Stabilität fördern. Evidenz u. a. zur Hörversorgung: ACHIEVE Trial (PubMed) · Ergebnisse/48 % Subgruppen-Effekt.

Umgebung und Routinen ordnen. Gute Beleuchtung, rutschfeste Wege, markierte Schränke, klare Beschriftungen und feste Plätze in der Küche erleichtern den Alltag. Wohnungsanpassungen/Home-Safety reduzieren Stürze (z. B. Cochrane-Evidence Update 2023; Überblick zu Home-Safety: Gillespie et al. 2012 bzw. Clemson 2019).

Technik mit Maß. Nur dort einsetzen, wo Akzeptanz und Alltagsnutzen zu erwarten sind: Herdabschaltung, einfache Fernbedienungen, Erinnerungsfunktionen, Musikplayer mit wenigen Tasten, bei Bedarf Ortungs-Tags für Schlüssel. Datenschutz und Einwilligung gehören dazu (vgl. WHO-ICOPE).

Risiken gemeinsam tragen. Ziele, Nutzen, mögliche Risiken, Alternativen und Notfall-Fallbacks festhalten und regelmäßig überprüfen – das ist „positive risk-taking“ in der Praxis (vgl. SCIE · Social Care Wales).

Umsetzung in fünf Schritten

  1. Kurzscreening der „intrinsischen Kapazität“ (Mobilität, Ernährung, Sehen, Hören, Stimmung, Kognition) nach WHO-ICOPE; Auffälligkeiten vertieft prüfen.
  2. Ziele auswählen. Was hat Vorrang (z. B. Orientierung in der Wohnung, sicheres Kochen, ruhiger Tagesbeginn)? Das SOK-Modell hilft, Überforderung zu vermeiden.
  3. Kleine Maßnahmen vereinbaren. Beispiele: zwei Türen beschriften; ein 10-Minuten-Bewegungsritual nach dem Frühstück; Hörgeräte jeden Morgen prüfen.
  4. Risiken abwägen und dokumentieren – gemeinsam mit der betroffenen Person (positive risk-taking).
  5. Regelmäßig nachjustieren. Alle zwei bis sechs Wochen Wirkung prüfen (Stürze, Orientierung, Belastung der Angehörigen, Zufriedenheit) und anpassen. Leitlinien empfehlen dieses schrittweise, personenzentrierte Vorgehen (z. B. S3-Leitlinie Demenzen 2025).

Kurzvignetten aus der Praxis (anonymisiert)

Aktivierung, die trägt. Regelmäßige 10-Minuten-Einheiten am Wohnzimmertisch (z. B. Tischtennis, oder auch ohne Tisch mit Luftballon) fördern Koordination, Reaktion und Aufmerksamkeit. Ergänzt durch interessenbezogene Sprachimpulse und leicht bedienbare Musik entsteht Struktur und erlebte Selbstwirksamkeit. Das entspricht dem Reablement-Prinzip.

Biografie und Validation. Eine über 90-jährige Person ordnet Migrationserfahrungen und Verlusterlebnisse. Bestätigendes Spiegeln statt Korrigieren senkt Anspannung, verbessert Orientierung und Sinnzusammenhang (vgl. Kitwood/Validation s. Quellen).

Kompensation ohne Überkompensation. Herdabsicherung, großsymbolige Fernbedienung, markierte Schränke und feste Plätze. Technik passt sich den Fähigkeiten an – nicht umgekehrt. Einwilligung und Datenschutz werden vorab geklärt. WHO-ICOPE liefert den Rahmen.

Familienkoordination auf Distanz. Zwei Geschwister leben nicht am selben Ort. Ein gemeinsamer Wochenplan (online teilbar), klare Zuständigkeiten (wer telefoniert wann, wer bestellt Rezepte), ein kurzer Änderungsbericht pro Woche und definierte „rote Signale“ (z. B. nächtliches Umherwandern, Stürze) verhindern Doppelarbeit und Streit. Gleichzeitig bleibt die Autonomie der betroffenen Person im Blick – Regeln werden nur dort gesetzt, wo sie nachweislich wirken.

Ethik in der Praxis

Die Leitfrage lautet: Wie viel Risiko ist vertretbar, damit Lebensqualität erhalten bleibt? Professionelles Handeln bedeutet, subjektive Ziele und objektive Risiken transparent zu verhandeln und Unterstützung dosiert einzusetzen. Sicherheit darf nicht auf Kosten des Wohlbefindens gehen – Risiken werden nicht ignoriert, sondern gemeinsam verantwortet.

Fazit

Selbstbestimmtes Leben trotz Multimorbidität und Demenz gelingt, wenn Personsein geschützt, intrinsische Kapazität gestärkt, Fähigkeiten gezielt geübt, Defizite maßvoll kompensiert und Risiken gemeinsam getragen werden. Als Leitplanken dienen Lancet-Kommission, WHO-ICOPE und die S3-Leitlinie „Demenzen“ 2025. Entscheidend ist die konsequente Übersetzung in kleine, überprüfbare Alltagsschritte.


Quellen (Auswahl – mit Links)

Leitlinien und Rahmenwerke

Prävention/Sensorische Versorgung

Angehörige – Wirksamkeit & Programme

Wohnungsanpassung/Sturzprävention