Selbstbestimmt leben bei Betreuungsbedarf

  • Demenz ist eine Beeinträchtigung, die von einer milden Merkfähigkeitsstörung bis hin zu einer schweren kognitiven Behinderung reichen kann. Selbst, wenn wir an Menschen mit demenziellen Beeinträchtigungen denken, also mittel bis sehr weit fortgeschrittene Verläufe: Aus langjähriger Erfahrung können wir sagen, dass diese kognitiven Einschränkungen fast nie bedeuten, dass ein Mensch gar nicht mehr spürt, was er in einem bestimmten Moment möchte oder nicht möchte. Der eigene Wille und Geschmack gehen so gut wie nie verloren. Es kann sein, dass Weitblick oder die Fähigkeit, Zusammenhänge und Kausalitäten zu erfassen, abnehmen. Dennoch ist es in jedem Stadium der Demenz immer möglich, Selbstbestimmung und Mitbestimmung gemeinsam mit den Betreuten zu realisieren. 
Nur nebenbei: gerade die Aufgabe der „Versorgung“, z.B. auf der Ebene der Ernährung, nach unserem Ermessen besonders engagiert und bewusst erfolgen: Denn nur, wer möglichst fit ist, kann sich gut für die eigenen Angelegenheiten einsetzen. Etwa: eiweiß- und vitaminreiche frische Nahrung gerade für Hochbetagte oder Menschen mit Demenz statt täglich süßes Abendessen. Denn: Zucker beeinflusst die Merkfähigkeit ungünstig. Oder: Gelingt es, dass jemand, der hochaltrig und dement ist, genug Flüssigkeit aufnimmt? Z.B. herausfinden, was und wie die Person gerne trinkt, was sie noch selbstständig kann und was nur mehr mit Anleitung/ Unterstützung? Aber auch auf der psychosozialen Ebene: je mehr Defizite bei einem Menschen vorliegen, desto mehr ist er abhängig von einem förderlichen Umfeld, das seine Befindlichkeiten und Bedürfnisse achtsam „lesen“ kann und aktiv Angebote setzt. Im Folgenden werden einige wesentliche Aspekte behandelt, wie Betreuungsqualität bzw. qualitätsvolle Betreuung sowie die Wertschätzung und die Förderung von Selbstbestimmung der betreuten Person einander wechselseitig positiv verstärken bzw. umgekehrt negativ beeinflussen können:

1. Mitbestimmung

Im Sinne des einleitend Gesagten ist es unbedingt Voraussetzung, dass die Fähigkeit zur Selbstbestimmung auch Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung, wie sie bei Demenz in zunehmenden Maße im Krankheitsverlauf gegeben ist, zugeschrieben wird. Ein Altersbild, das einen betagten oder hochbetagten Menschen vor allem auf seine Defizite reduziert, ist kaum förderlich für eine Betreuung, die Selbstbestimmung achten und fördern will. Vielmehr ist es wichtig, auch hochbetagten Menschen mit Demenz Chancen, Perspektiven und Fähigkeiten zuzuschreiben. Denn es ist erforscht: Besonders pflegebürftige hochbetagte Menschen passen sich in hohem Maß dem an, was Betreuungspersonen von ihnen erwarten und ihnen zutrauen bzw. nicht zutrauen. Auf diesen Voraussetzungen aufbauend ist es Basis für alles weitere bzgl. der Mitbestimmung, kontinuierlich einen Dialog zum Zweck eines laufenden Contractings (wechselseitige Abstimmung über Ziele und Inhalte der Betreuungsbeziehung) mit der betreuten Person zu gestalten – und zwar egal, ob diese selbstvertretend ist oder eine Erwachsenenvertreterin hat (hier ist dann natürlich die vertretende Person auch laufend mit einzubeziehen in das Contracting). Jede*r dabei in seiner Rolle: Die oder der Klient*in als Expert*in für die eigene Person und deren Entscheidungen, die oder der Betreuer*in als Fachexpert*in für demenzielle Beeinträchtigungen und deren möglichst effektive Kompensation sowie erfolgreiche Förderung der „gesunden“ Anteile. Verantwortlich für den Dialog sind jedenfalls die Betreuenden. Sie halten diesen unbedingt aufrecht: Die betreute Person ist, wie gesagt, als mitbestimmend und erste*r Expertin/Experte für die eigene Person in die Ziele und Inhalte des Betreuungsprozesses einzubeziehen. Auch ohne Worte: Um im laufenden Dialog betreuen zu können, können wir von “Demenzbetreuung selbstbestimmt” sowohl auf sprachlich vereinfachtem Niveau als auch nonverbal und paraverbal gut kommunizieren. So können wir selbst dann, wenn der verbale Ausdruck nicht mehr gegeben oder stark eingeschränkt ist, Selbst- bzw. Mitbestimmung gewährleisten.

2. Empowering bzw. Förderung

Aus mehreren Gründen kann es sein, dass die betreute Person gehemmt ist, Mit- bzw. Selbstbestimmung trotz Beeinträchtigung ganz selbstverständlich zu leben. Traditionelle Erwartungen machen es besonders für Frauen insbesondere der älteren Generation, die wenig Zugang zu Bildung hatten sowie Menschen, die Repression und psychische Gewalt erfahren haben oder eben auch hilfsbedürftige hochbetagte Menschen nicht leicht, sich dezidiert selbst zu vertreten. Insofern ist seitens von Betreuenden, in unserem Fall von “Demenzbetreuung selbstbestimmt”, ein unbedingter Beitrag zur Selbstbestimmung der Betreuten, dass wir aufmerksam, wach und engagiert die Willensäußerungen unserer Betreuten fördern, um dadurch möglichst viele von deren Fähigkeiten, die nötig sind selbst-zu-bestimmen und das eigene Leben zu gestalten, erkennen, verstärken und fördern.

3. Eigeninitiative versus Lenkung und freiheitsbeschränkende Maßnahmen

Zu entscheiden, den eigenen Impulsen auf der Handlungsebene konkret nachzugehen, ist eine wesentliche Nahrung für das Ego, für das „Ich“, für die Persönlichkeit. Insofern ist es, so finden wir, geradezu ein Selbstzweck, dass Betreuende von Moment zu Moment einschätzen können, wann sie sich zurücknehmen und in die AssistentInnenrolle schlüpfen können und sich in diesen Momenten/ Situationen von der betreuten Person leiten lassen. Dies sollte mehr die Regel als die Ausnahme sein! Anders gesagt übernimmt die Betreuungsperson nur in begründeten “Ausnahmesituationen” die alleinige Führung des Betreuungsgeschehens; also dann, wenn es aus Gründen des Selbstschutzes oder Fremdschutzes oder, um ein sehr wichtiges Ziel in knapper Zeit zu erreichen, nicht anders möglich ist. Ein möglichst großer Handlungsspielraum, bzw. möglichst große Freiheit, ist natürlich auch ein wichtiger Bestandteil von Selbstbestimmung. Stellen sie sich vor, jemanden einzusperren, womöglich gar im Bett, ohne nennenswerte Sozialkontakte. Eine sehr bescheidene Freiheit zu wählen bliebe dann, wenn man so jemandem dann sagen würde: “nun sei selbstbestimmt”. Bei freiheitsbeschränkenden Maßnahmen geht es nach unserem Ermessen weiters immer darum, abzuwägen: Was ist das kleinere Übel? Zwei Beispiele: a) Wenn frau/man jemandem über ein Armband oder Seniorentelefon, das sich tracken lässt, ersparen kann, dass sie oder er in der Wohnung eingesperrt wird oder in eine Einrichtung umziehen muss, würden wir für die Einführung dieser technischen Lösung stimmen. b) Wenn durch das Anbringen einer technischen Vorrichtung in der Wohnung Stürze sofort erkannt und rasch geholfen werden, und dadurch wiederum erreicht werden kann, dass jemand im eigenen Appartement oder in der eigenen Wohnung weiter leben kann, würden wir diese Lösung vorziehen. Ohne Vertrauen von Betreuungspersonen „geht Eigenverantwortung bei Betreuung nicht“. Wir vertrauen darauf, dass Menschen mit Demenz wenn sie den Nutzen von Neuerungen / Änderungen erkennen und genug Möglichkeiten zum Üben haben, lernend neue Herausforderungen erfolgreich meistern können. Sie und wir tragen am meisten zum Erhalt der Persönlichkeit/des Personseins eines Gegenübers mit Demenz bei, wenn wir offen und ehrlich gegenüber allen Aspekten (Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges) des Gegenübers sein, nicht-wertend bzw. wertschätzend, interessiert und mitfühlend Anteil nehmen können.

4. Persönlichkeit/ ”Personsein” nach Kitwood erhalten

Mit einer Demenzerkrankung nehmen manche kognitiven Fähigkeiten und zuweilen auch die die „seelische Widerstandskraft“ (‚psychische Resilienz“) ab. Der englische Demenzforscher und Psychologe Tom Kitwood hat eine Liste förderlicher Verhaltensweisen von Bezugs- und Betreuungspersonen erarbeitet, die die Persönlichkeit eines Menschen mit Demenz erhalten. Und gleichfalls eine Liste zerstörerischer Verhaltensweisen. Erhalt des Personseins nach Kitwood: Gegenüberstellung förderlicher und hinderlicher Verhaltensweisen. Wir halten es für eine der Bedingungen für eine „die Selbstbestimmung förderliche Betreuung“, dass frau/man als Betreuungsperson sich selbst gut genug erkundet hat, um kindlich verletzbare Anteile so gut selbst „betreuen“ zu können, dass sie nicht Klient*innen in der Beziehung „aufgebürdet“ werden müssen. Schlimmstenfalls kann frau/man nämlich einen Menschen mit Demenz psychisch relativ leicht vernichten und dessen Persönlichkeit auslöschen, da deren eigene Selbstschutzmechanismen durch die Erkrankung/ die kognitive Behinderung schwächer werden. Um es nochmals ins Positive zu wenden: Es ist sehr, sehr nötig, sich selbst als Betreuungsperson sehr gut zu kennen und die eigenen Ängste und Schwächen zu reflektieren und zu akzeptieren, um eine andere Person in all ihren Dimensionen wahrnehmen, annehmen und fördern zu können.

5. Sich zurücknehmen und flexibel schnell anpassen können

Nicht selten anzutreffen bei Menschen mit Demenz ist ein starkes Schwanken in der kognitiven Leistungsfähigkeit bzw. stärker noch in der seelischen Verfassung.

Django Reinhardt